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Universität Tübingen

English Theoretische Computerlinguistik - Einführung

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Allgemeine Sprachwissenschaft / Computerlinguistik
Allgemeine und Theoretische Sprachwissenschaft
Theoretische Computerlinguistik
SfS

Der zentrale Gegenstand der Theoretischen Computerlinguistik ist in erster Näherung die menschliche Sprache unter dem Aspekt ihrer "Berechenbarkeit." Obwohl der Computer die Inkarnation eines effektiven Berechnungsmodells par excellance ist, gehen der Aufgabenbereich und das leitende Erkenntnisinteresse dieser Teildisziplin der Sprachwissenschaft (deren weniger mißverständlicher englischer Name Theoretical Computational Linguistics lautet) dabei über eine "Linguistik für den Computer" hinaus.

Unter einem Berechnungsverfahren wird in diesem Zusammenhang ein Vorgehen verstanden, bei dem ausgehend von einer endlichen Menge diskreter Objekte durch Anwendung eines vorher festgelegen Satzes von Regeln ein ebenfalls endliches, diskretes Objekt erreicht wird. Offensichtlich involviert etwa das Verstehen eines Satzes einen Berechnungsvorgang in diesem Sinn. Aufbauend auf Ergebnisse und Methoden der Logik beschäftigt sich die Theoretische Computerlinguistik mit den Eigenschaften derartiger Berechnungsverfahren, soweit diese geeignet sind, Einsichten in die Struktur natürlicher Sprachen zu vermitteln. So hat man zum Beispiel in der Logik und der Theoretischen Informatik eine feingliedrige Hierarchie von Berechnungsverfahren entwickelt, die diese Prozesse gemäß ihrer wachsenden Stärke klassifiziert. Vor diesem Hintergrund ist es von hohem theoretischen und praktischen Interesse, wo genau auf dieser Hierarchie berechenbarer Verfahren sowohl die natürlichen Sprachen "an sich" als auch ihre Modellierungen durch verschiedene linguistische Theorien angesiedelt sind. Sollte es sich herausstellen, daß wir unser wichtigstes Kommunikationsmedium nur durch den Rückgriff auf abstrakte Rechenvorschriften modellieren können, die jenseits der praktischen Rechenleistung aktuell vorhandener und für die Zukunft vorhersehbarer Computer liegen, wirft dieser Umstand tiefgreifende Fragen über den Gegenstand linguistischer Forschung auf.

Neben der praktischen Relevanz der Resultate zur Komplexität natürlicher Sprache, soweit sie durch theoretische Überlegungen über ihre Berechenbarkeit erfaßt werden kann, stehen entsprechende Ergebnisse auch in engem Zusammenhang mit grundlegenden Vorstellungen, die sich unter dem Einfluß kognitionswissenschaftlicher Begriffsbildung über das Wesen der Sprache in den vergangenen vier Jahrzehnten gebildet haben. Gegenstand der Kognitionswissenschaft sind die Funktionen erkenntnis- und wissengeleiteten Verhaltens von Menschen, Tieren und Maschinen. Die Kognitionswissenschaft integriert in ihrem Forschungsprogramm Resultate und Methoden der kognitiven Psychologie, der künstlichen Intelligenz, der Sprachwissenschaft, der Philosophie, der Neurowissenschaften und der kognitiven Anthropologie. Sie geht von der Annahme aus, daß mögliche Antworten auf Probleme, die in ihren Bereich fallen, der einschränkenden Hypothese gehorchen müssen, daß Kognition in letzter Analyse als ein Verrechnen von (mentalen) Repräsentationen zu verstehen ist. Die menschliche Sprache gehört nach den Grundannahmen der Kognitionswissenschaft zu den geistigen Vermögen, die in ihrer Ausübung als ein Berechnen von solchen endlichen, diskreten mentalen Repräsentationen zu verstehen sind. Sollten nun die Verfahren, die in der Phonologie, der Morphologie, der Syntax, der Semantik und der Pragmatik anzunehmen sind, von so extremer Komplexität sein, daß sie nicht nur die praktische Rechenleistung denkbarer Computer sprengen, sondern darüberhinaus aus dem Rahmen des oben skizzierten abstrakten Begriffs eines allgemeinen Berechnungsverfahrens fallen, dann wären nicht nur Hürden für die angestrebten Anwendungen der Computerlinguistik aufgerichtet, sondern eines der konkurrierenden Paradigmata, die das Selbstverständnis des homo sapiens leiten, wäre in ihren Grundlagen erschüttert. Diese Verbindungen machen deutlich, daß die Theoretische Computerlinguistik es zwar nicht - wie es ihre Bezeichnung scheinbar nahelegt - als ihr vornehmstes Ziel ansieht, die menschliche Sprache auf ein Computerprogramm zu reduzieren, daß ihr Arbeitsgebiet, die Betrachtung der Sprache unter berechnungstheoretischem Aspekt, jedoch von unmittelbarer Bedeutung für die praktischen Belange der Computerlinguistik und für unser Selbstverständnis als sprechende Wesen sind.


© Frank Morawietz